Leitlinien zu physischen Interventionen - eine Orientierungshilfe
Die Forschung belegt, was Fachberater*innen der Fachstelle Prävention von Anthrosocial (Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialpädagogik und Sozialpsychiatrie) durch die Arbeit in heil- und sonderpädagogischen Organisationen für Menschen mit Unterstützungsbedarf seit jeher konstatieren. In einer gross angelegten Schweizer Studie zu freiheitsbeschränkenden, respektive bewegungseinschränkenden Massnahmen in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe geben rund 80 Prozent der Leitungspersonen an, dass in ihren Einrichtungen in Eskalationssituationen FbM zur Anwendung kommen (vgl. Büschi et al. 2021). Nebst der Verabreichung von sedierenden Medikamenten werden Festhalte- respektive Teamtechniken und andere physische Interventionen (z.B. Befreiungstechniken) sowie die Separation in einem anderen Raum als angewandte FbM genannt (ebd.). Hierbei ist anzunehmen, dass der Weg hin zum separierenden Raum ebenfalls durch Festhaltetechniken bewältigt wird. Die Anwendung ebendieser physischen Interventionen stellt einen Grundrechtseingriff dar und ist nur erlaubt, wenn die im ZGB Art. 383 ff. festgelegten Bedingungen erfüllt sind, d.h. vor allem wenn eine akute Fremd- oder Selbstgefährdung mit gleichzeitiger Urteilsunfähigkeit der Person mit Unterstützungsbedarf bestehen. Das Gesetz regelt also, wann eine begleitete Person festgehalten werden darf, jedoch nicht, auf welche Art und Weise und unter welchen Rahmenbedingungen der Organisation, respektive des institutionellen Settings, dies geschehen darf. Diese Frage wird den Dienstleistungsorganisationen in Verantwortung gegeben. Während der Verband Anthrosocial überzeugt ist, dass ein Teil der Organisationen bereits heute vorbildlich und professionell mit physischen Interventionen umgeht, findet in der allgemeinen Praxis leider noch zu wenig Auseinandersetzung mit dem Thema statt. Obwohl physische Interventionen und andere Zwangsmassnahmen im Bereich der Psychiatrie und (anschliessend) der Altenpflege schon lange im kritischen Fokus von Öffentlichkeit und Forschung stehen, scheinen sie in Organisationen für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen immer noch ein grosses Tabu zu sein.
Doch wieso hält sich dieses Tabu so hartnäckig? Die Anwendung von Gewalt widerspricht der Idealvorstellung von Miteinander und Begleitung, respektive dem eigenen Berufsethos (vgl. Irlblich 2016). Die Paradigmen Personenzentrierung, Selbstbestimmung und Lebensqualität sind heute glücklicherweise unbestritten, doch geben die zugehörigen Theorien der Sozial- und Heilpädagogik keinen Anhaltspunkt, wie mit Situationen umzugehen ist, in denen die Orientierung an ebendiesen Paradigmen nicht praktiziert werden kann (vgl. Wunder 2012). Dieses Desiderat aufzulösen ist unausweichlich, wenn die oben genannten Paradigmen wahrhaftig handlungsleitend sein sollen. Dazu muss das Thema physische Intervention auch Eingang in die Curricula der (päd-)agogischen Ausbildungsstätten sowie in die sozialpolitische Agenda finden. Denn auch dort erhält die Thematik noch nicht den ihr zustehenden Stellenwert.
Physische Interventionen kommen dann zum Zug, wenn (päd-)agogische Massnahmen keine Wirkung mehr zeigen und die Integrität einzelner Personen situativ gefährdet ist. Das Ziel ist der Schutz der Begleitpersonen, unbeteiligten Dritten sowie nach Möglichkeit der Person, die gefährdendes Verhalten ausübt. Begleitete Menschen haben ein Anrecht auf diesen Schutz und manchmal lassen sich trotz bestem Wissen und Gewissen physische Interventionen nicht verhindern. Dann sind sie sinnvoll und wichtig. Problematisch ist die mangelnde Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Umgang mit physischen Interventionen mit ganzheitlichem Blick auf Gefahrensituationen im institutionellen Setting, was der Weiterentwicklung dieser Praxis im Wege steht. In der Folge bleibt die Anwendung physischer Interventionen willkürlich. Dies ist für alle Betroffenen mit Gefahren und hoher Belastung verbunden. In Eskalationssituationen jedes Mal anders angefasst, bewegt oder festgehalten zu werden, bedeutet für begleitete Menschen zusätzliche Verunsicherung, Ohnmachtsgefühle und ein hohes physisches wie psychisches Verletzungspotential (vgl. MacDonald, McGill & Deveau 2011). Diese Erfahrung kurbelt den Gewaltkreislauf an und kann zu einem späteren Zeitpunkt weitere selbst- und fremdverletzende Verhaltensweisen auslösen. Für Begleitpersonen ist nicht nur das Erleben von, sondern auch der Umgang in akuten Krisen belastend. Begleitpersonen schildern in diesem Zusammenhang Gefühle der Angst, eigene Aggression, Hilflosigkeit, Resignation und Zweifel an der eigenen Kompetenz (vgl. Seifert 1995). Besonders unter ungünstigen institutionellen Rahmenbedingungen (fehlende Notrufsysteme, Konzepte und ungeeignete Räumlichkeiten) verlieren auch Begleitpersonen ihren «sicheren Ort» in Situationen, in denen sie eigentlich mit professioneller Gewaltprävention und Krisenintervention beauftragt wären (vgl. Seifert 1995; vgl. Fischer & Wunderlich 2013).
Angesichts der aktuell hohen Fluktuation sowie dem allgemeinen Fachkräftemangel ist es wichtig, dass Dienstleistungsorganisationen besonders in den Erhalt oder den Wiederaufbau der Ori-entierungs- und Handlungssicherheit ihres Personals investieren. Als Unterstützung der Organisatio-nen in diesem Prozess hat Anthrosocial Leitlinien zu physischen Interventionen in akuten Gefahrensi-tuationen bei der Begleitung von Menschen mit Beeinträchtigung erarbeitet. Diese kann als politi-sches Argumentarium sowie als Reflexionsgrundlage und Zielentwurf auf Ebene der Organisation eingesetzt werden. In den Leitlinien zu physischen Interventionen wird einerseits in die Thematik ein-geführt und somit die gesellschaftliche und institutionelle Realität aufgezeigt. Andererseits bieten die Leitlinien konkrete Ansätze zum professionellen Umgang mit physischen Interventionen auf Ebene der Gesamtorganisaation. Neben Schulung der Begleitpersonen beziehen sich die Ansätze vor allem auf die Gestaltung geeigneter institutioneller Rahmenbedingungen zur Prävention, Umsetzung und Reflexion von physischen Interventionen in akuten Gefahrensituationen. Denn jegliches Sicherheits-handeln bedarf einer Einbettung in ein (päd-) agogisches Gesamtkonzept, da sonst die Gefahr der missbräuchlichen, willkürlichen und unreflektierten Anwendung besteht (vgl. Heinrich 2016). Die Leit-linien dienen der Qualitätssicherung und Weiterentwicklung der sozial- respektive heilpädagogischen Praxis, mit dem Ziel, physische Interventionen wo nötig schonend, zielgerichtet und reflektiert umzusetzen und zugleich respektive auch dadurch generell zu minimieren.
Fachstelle Prävention von Gewalt und sexueller Ausbeutung, 05. Sep. 2023
Quellenverzeichnis und Links
Büschi Eva, Schicka Manuela, Calabrese Stefania, Hassler Benedikt und Zambrino Natalie (2021). Freiheitsbeschränkende Massnahmen im Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen. In Schweizerische Zeitschrift für Soziale Arbeit, 27 (1), 31-52. Bern: Schweizerische Gesellschaft für Soziale Arbeit.
Fischer Daniel & Wunderlich Lukas (2013). Physische Interventionen – Möglichkeiten und Grenzen (unveröffentlichtes Skript).
Heinrich Johannes (2016). Wie begegnen wir behinderten Menschen mit aggressiven Verhaltensweisen richtig? Ein pädagogisch-psychologisches Konzept zur Krisenintervention. In Johannes Heinrich (Hrsg.), Akute Krise Aggression. Aspekte sicheren Handelns bei Menschen mit geistiger Behinderung (4. Aufl., S.71-114). Marburg: Lebenshilfe-Verlag.
Irlblich Dieter (2016). Ethische Aspekte bei der Anwendung von Sicherheitstechniken und Schutzmassnahmen bei Menschen mit geistiger Behinderung. In Johannes Heinrich (Hrsg.), Akute Krise Aggression. Aspekte sicheren Handelns bei Menschen mit geistiger Behinderung (4. Aufl., S.223-258). Marburg: LebenshilfeVerlag.
MacDonald Anne, McGill Peter & Deveau Roy (2011). « You squeal and squeal but they just hold you down». Restrictive physical interventions and people with intellectual disabilities: service user views. International Journal of Positive Behavioural Support, 1 (1), 45-52.
Schweizerisches Zivilgesetzbuch (ZGB) vom 1. Januar 2014.
Seifert Monika (1995) Problemverhalten – eine Herausforderung für Mitarbeiter. Berichte von Betreuern von Erwachsenen mit schwerer geistiger Behinderung über ihren Umgang mit schwierigen Verhaltensweisen. Geistige Behinderung 34 (2), 120-133. Marburg: Lebenshilfe.
Wunder Michael (4.9.2012). Gewalt und Aggression in der Pflege und Pädagogik – Diskutieren statt Tabuisieren. Hamburg: Beratungszentrum Alsterdorf.